Corroboree

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Ein Regisseur beauftragt einen jungen Mann namens Conor, ihn an einem Wochenende in einem Meditationszentrum zu besuchen. Dort soll Conor Szenen aus dem Leben des Regisseurs nachspielen. Zuvor hat er ein Band mit genauen Anweisungen erhalten: Er soll verschiedene Räume aufsuchen, in denen er fünf Schauspielerinnen begegnen wird, die im Leben des Regisseurs eine wichtige Rolle gespielt haben. Conor lernt die Frauen im Laufe der Tage näher kennen und erfährt auf diese Weise die Lebensgeschichte des Regisseurs. Dadurch wird es ihm möglich, Mitgefühl zu entwickeln und den Regisseur zu ’spielen’. Am Ende muss er entscheiden, ob das Spiel zu weit gegangen ist.
Künstlichkeit und Camp: Hommage an einen Stil
Der Regisseur über den Film

Die Schauspielerin Susan Lyons, die im Film Verna verkörpert, war eine enge Vertraute und Muse des Theaterregisseurs Richard Wherrett (dem der geheimnisvolle Regisseur in CORROBOREE etwas ähnelt). Lyons war auch bei ihm, als er im Sterben lag. Für meinen Kurzfilm VIOLET LIVES UPSTAIRS hatte ich aus purem Zufall Rebecca Frith und Luciano Martucci als Liebespaar engagiert – die vor über einem Jahrzehnt in Wherretts Inszenierung von "Romeo und Julia" das unglückselige Liebespaar gespielt hatten.
Diese Koinzidenz bei der Wahl der Schauspieler und die Verbundenheit, die sie mit dem – inzwischen leider verstorbenen – legendären Regisseur empfanden, berührte mich und ließ in mir den Wunsch entstehen, einen Film zu machen, der der zutiefst unbewussten Vorstellung von einer Verbindung zwischen Sexualität und Tod bei männlichen Homosexuellen (und in gewisser Weise bei allen Menschen) auf den Grund geht.
Obwohl der Film fiktiv ist und keine Biografie, wollte ich Richard und seine Arbeit ehren, indem ich Rebecca und Susan als zwei der Schauspielerinnen engagiert habe, die das ausgedachte Stück im Leben eines Regisseurs proben, der infolge einer Aidserkrankung stirbt. Die Schauspielerinnen kämpfen nicht nur um das Leben des Regisseurs, sondern setzen sich auch dafür ein, eine bestimmte Ästhetik lebendig zu halten, die Wherrett und einige andere im australischen Theater eingeführt haben und die manchmal liebevoll ’Camp’ genannt wird: ein Theaterstil, der unter der obersten Schicht einer bewusst geschaffenen Fassade die Wahrheit durchblicken lässt. Tatsächlich ist das Künstliche manchmal besser geeignet, um eine soziologische Wahrheit anzudeuten, als das durchsichtigere Modell des Naturalismus.
Künstlichkeit wird oft mit Oberflächlichkeit gleichgesetzt – weil sie als künstlerische Ausdrucksform außerhalb des Mainstreams steht. Das Bedürfnis, mit der Idee einer ’Maske‘ zu spielen und damit unter die Leute zu gehen, können oft nur Menschen nachvollziehen, die selbst einer Minderheit angehören. Sie haben viel Zeit ihres Lebens damit vergebracht, eine Barriere zwischen sich und den anderen zu errichten, um die Ablehnung nicht zu spüren, die ihnen großteils entgegenschlägt. Um nicht zum Opfer zu werden, verbirgt man die Angst und den Schmerz hinter einer Maske des Frohsinns.
Diese Vorstellung von ’Schönheit mit einem Hauch von Traurigkeit‘ ist ein alter Grundgedanke in der japanischen Kunst, der dort ’mono no aware‘ heißt (und das Bewusstsein von der Vergänglichkeit aller Dinge meint; A.d.R.). Dahinter steht die Idee, dass wahre Kunst die eigentliche Wahrheit nicht zeigt, sondern sie stattdessen unter der Oberfläche lässt. Mit dieser Idee wollte ich mich in meiner Arbeit gerne ausführlicher beschäftigen.
Es ist kein Zufall, dass der Film an einem Ort wie dem Meditationszentrum spielt, der dem Rückzugsort der Geishas in der japanischen Literatur ähnelt. Die Schauspielerinnen übernehmen eine ähnliche Rolle wie die der unbelohnt bleibenden Geisha in diesen Liebesgeschichten. In erster Linie ist mein Film eine Liebesgeschichte zwischen den Schauspielerinnen und dem Regisseur.
Ben Hackworth
Zwischen Spiel und Realität
Über den Film

Ein ’corroboree’ ist ein ausschweifendes Fest in der Kultur der australischen Aborigines, bei dem wichtige Ereignisse gefeiert werden und für das Kenntnisse heiliger Rituale erforderlich sind.
Ein berühmter Theaterregisseur verbringt seine letzten Tage an einem idyllischen Ort auf dem Land. Er möchte die Schlüsselmomente seines Lebens noch einmal in Szene setzen. Sein Wunsch ist es, einerseits den ihm ergebenen Schauspielerinnen Trost zu spenden, weil er sterben muss; gleichzeitig möchte er sich selbst ein Denkmal setzen.
Die Schauspielerinnen verkörpern Menschen aus seiner Vergangenheit. Der Regisseur hat einen jungen Mann namens Conor beauftragt, ihn mit Hilfe detailliert aufgezeichneter Anweisungen zu spielen und zu bestimmten Zeiten in bestimmten Räumen aufzutauchen.
Conor steigt aus dem Bus, mit einem Rucksack und wenig Vorstellung von dem, was ihn erwartet. Wir lernen den Schauplatz mit seinen Augen kennen. Die Anfangsszenen sind schwierig, die Frauen wollen ihm helfen, sind aber distanziert. Irgendwann holen sie die Aufzeichnungen des Regisseurs heraus, um ihm beizuspringen und die Szenen voranzubringen. Während der Pausen, die die Crew macht, sieht man sie im Salon essen. Aber dann verschwinden die Kostüme, die Darbietung wird intensiver, Conors Spiel bessert sich. Ganz allmählich gewinnt er Klarheit über das Anliegen des Regisseurs, seine sexuelle Veranlagung und seine Pläne.
CORROBOREE ist ein wundersamer Film. Er bewegt sich in einer unbeständigen Welt zwischen Spiel und Realität, ohne dabei gezwungen oder besonders theatralisch zu wirken. Allerdings ist der Zuschauer stets auf der Suche nach Hinweisen darauf, wie das Mysteriöse, die Rätsel zu deuten sind; er sucht nach Anhaltspunkten für die schwer fassbare Struktur und Bedeutung des Films.
Regisseur Ben Hackworth zeigt sich in seinem ersten abendfüllenden Spielfilm von äußerster Zurückhaltung. Statt konventioneller erzählerischer Mittel kommen lange statische Einstellungen, atmosphärische Klänge und beredte Stille zum Einsatz – das spricht für Selbstvertrauen und ein Gefühl der Dringlichkeit in der Arbeit des jungen Regisseurs. In CORROBOREE geht es um gewichtige Themen wie Sexualität, Tod und Krankheit; Hackworth nimmt sie jedoch nicht zu ernst: Die Schauspielerinnen nippen ab und zu an ihrem Flachmann und verhaspeln sich zwischendurch. Diese gelungene Balance ist offensichtlich von der Arbeit eines zeitgenössischen Theaterregisseurs inspiriert, und zwei seiner Musen spielen in Hackworths Film mit – noch eine hintergründige und subtile Ebene in diesem herausragenden Film.
Noah Cowan, Katalog des Internationalen Filmfestivals Toronto, 2007
Anmerkungen zum Tod von Schönheit, Kunst und Talent
Aus einem Briefwechsel zwischen Ben Hackworth und Matthew Clayfield

Lieber Ben,
das Wichtigste zuerst: CORROBOREE ist im Hinblick auf das aktuelle australische Kino eine Ausnahmeerscheinung. Sieht man sich die neuesten Produktionen Australiens an – von SOMERSAULT (Cate Shortland, 2004) bis KENNY (Clayton Jacobson, 2006) – gibt es, wenn überhaupt, nur wenige Filme mit einer dezidiert formalistischen Herangehensweise. Ihrer gehört dazu, da bin ich sicher. Seltsamerweise ist es einfacher, ihn mit Filmen in Zusammenhang zu bringen, die sonstwo auf der Welt entstanden sind, als mit australischen. CORROBOREE hat viele Gemeinsamkeiten mit einigen neueren (und nicht ganz so neuen) Filmen des Weltkinos und lässt sich leicht aktuellen Trends und Themen zuordnen.
Formal hatte der Film für mich große Ähnlichkeit mit Gus Van Sants jüngstem Film, wenn auch nicht auf so direkte Art wie Murali K. Thalluris Film TWO THIRTY 7 (2006). Das asiatische Kino, darunter Hong Sangsoo, Hou Hsiao-Hsien und insbesondere Tsai Ming-liang, hat sicherlich auch einen gewissen Einfluss ausgeübt. Thematisch gibt es einige Ähnlichkeit mit Ingmar Bergman, das finden jedenfalls viele – obwohl mich mehr die Ähnlichkeiten mit Michael Haneke fasziniert haben. Insbesondere zwischen FUNNY GAMES (1997) und CORROBOREE gibt es bedeutsame Ähnlichkeiten durch die Kommentare zur Rolle des Regisseurs auf der Metaebene des Films.
Gleichzeitig scheint es anerkanntermaßen Momente zu geben, in denen der Film seinen Vorläufern in der Heimat huldigt. Am offenkundigsten gilt das für Peter Weirs PICNIC AT HANGING ROCK - PICKNICK AM VALENTINSTAG von 1975, und wenn es nur die Tatsache betrifft, dass beide Filme Bild und Stimmung gegenüber Handlung und Figuren den Vorrang geben. Die zentrale Szene des Films, in der die Schauspieler Tom Waits‘ "I Don‘t Wanna Grow Up" singen, erinnert wiederum an Gillian Armstrongs MY BRILLIANT CAREER - MEINE BRILLIANTE KARRIERE, dessen formaler und thematischer Mittelpunkt ebenfalls eine Szene gemeinschaftlichen Singens um ein Klavier herum ist: wenn Frank Hawdon (Robert Grub) New Jerusalem singt. In diesem Lied geht es darum, Gnade zu finden, womit auch das Hauptthema des Films benannt wird. Die Verbindung zwischen beiden Filmen ist mit Sicherheit rein zufällig, aber manchmal sind die zufälligen Verbindungen besonders bezeichnend oder fruchtbar. Was glauben Sie?
Besonders gut gefallen haben mir bei CORROBOREE die Innenaufnahmen, die das Haus als Labyrinth zeigen, in dem man sich niemals zurechtfindet. Die Choreografie der Auftritte und Abgänge, die auf verschiedenen Bildebenen stattfinden, ist besonders beeindruckend; am vorzüglichsten ist der Rhythmus des Ganzen übrigens in der Eröffnungsszene im Busdepot umgesetzt. Das hat mich – ich weiß, dass ich mich an Strohhalme klammere – an so unterschiedliche Filme wie die von Jacques Tati und James Benning erinnert.
Matthew Clayfield
Lieber Matthew,
scharfsinnige Beobachtungen!
Die formale Herangehensweise des Films ist deswegen so offensichtlich, weil die Erzählung nicht im Vordergrund steht. Wenn ein Filmemacher sich entschließt, das Publikum nicht so sehr in das emotionale Pathos der Geschichte einzubinden (oder zu manipulieren), rücken für den Zuschauer der Umgang mit dem Thema selbst und all die formalen Aspekte des Films mehr in den Vordergrund. BU SAN - GOODBYE DRAGON INN von Tsai Ming-Liang (2003) ist dafür ein gutes Beispiel. Ich glaube, in vielen seiner Arbeiten bedient er sich langer, weiter Einstellungen und einer Choreografie der Wiederholungen, die einen inneren Rhythmus im Film schafft. Der Film verwandelt sich in ein Stück Orchestermusik, und die Schauspieler sind das zentrale Motiv, die Auge (und Ohr) durch das Bild führen. Interessant, dass Sie Tati erwähnten. Ich glaube nämlich, dass Tsai sich von dem französischen Meister inspirieren ließ. Beide Regisseure haben mich, dessen war ich mir bewusst, bei bestimmten Entscheidungen für den Film beeinflusst, aber ich habe zu keinem Zeitpunkt irgendwelche formalen Ideen direkt kopiert.
Weil Sie von Formalismus gesprochen haben: Ich mag Filme, die richtig erzählt werden. Aber in Australien gibt es eine Überbetonung des Dogmas ’Erzählkino’, und deswegen wollte ich in meinem ersten Film das Gegenteil machen. Das war keine bewusst anarchische Haltung; es ging mir eher darum, für all die Geschichten, Gefühle und Ängste, die ich beschreiben wollte, eine in erster Linie künstlerische Herangehensweise zu finden. In einer realistischen Erzählung wäre das nicht möglich gewesen.
Außerdem wollte ich nicht, dass mein erster Spielfilm einer dieser kunstvollen Filme über das endlos behandelte Thema des Erwachsenwerdens wird. Ich musste mich selbst erst einmal mit einem längeren Film finden, bevor ich mich irgendwann der Welt der Kompromisse stellen kann, die vor allem bestimmt ist von der Suche nach Geld: Projektentwicklung, Projektplanung, Vorab-Verkauf, Starsystem, Marketing. Ich wollte sichergehen, dass ich meine Ansprüche auch in einem längeren Film realisieren kann.
Mir lag sehr daran, einen Film zu machen, der sich mit der inneren Suche seiner Figuren, Geschichten und Bilder beschäftigt, und nicht einen dieser körperbetonten Actionfilme, die in letzter Zeit in Australien produziert wurden. Es ist wohl meine anarchistische Seite, mit der ich Australien in seinen echten Farben zeige. Vielleicht wollte ich mich auch nur vergewissern, dass ich, egal was ich jetzt mache, später immer zu meinen ‘formalistischen‘ Wurzeln zurückkehren kann. Diese Rückkehr wird möglicherweise erst dann stattfinden, wenn Staat und private Filmindustrie dem unabhängigen Filmschaffen gegenüber etwas wohlgesonnener eingestellt sind.
Ben Hackworth, www.sensesofcinema.com, 20. Juli 2007

Details

  • Länge

    96 min
  • Land

    Australien
  • Vorführungsjahr

    2008
  • Herstellungsjahr

    2007
  • Regie

    Ben Hackworth
  • Mitwirkende

    Conor O'Hanlon, Rebecca Frith, Natasha Herbert, Susan Lyons, Jane McArthur, Margaret Mills, Ian Scott, Jethro Cave
  • Produktionsfirma

    I Won't Grow Up PTY LTD
  • Berlinale Sektion

    Forum
  • Berlinale Kategorie

    Spielfilm

Biografie Ben Hackworth

Ben Hackworth wurde am 12. Juli 1977 in Brisbane, Australien, geboren. Er studierte in den USA am Amherst College in Massachussetts Englische Literatur und Theaterwissenschaft. Anschließend studierte er Film am australischen Victorian College of the Arts in Melbourne. Sein Kurzfilm Violet Lives Upstairs gewann den australischen Kritikerpreis für den besten Kurzfilm. CORROBOREE ist Hackworths erster Spielfilm.

Filmografie Ben Hackworth

1999 Sugar on the Phone | 2000 Murder Landscapes | 2002 Half Sister | 2003 Violet Lives Upstairs | 2018 Celeste