Soreret

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Zwei junge Frauen aus Israel, die in keinem coolen Café dieser Welt auffallen würden: Sie wirken so smart und modebewusst wie viele ihrer Altersgenossinnen in Berlin oder Buenos Aires. Doch Sarah, die Bloggerin, und Shlomit, die Fotografin, haben einen hohen Preis dafür bezahlt, als moderne Frauen in der Jetztzeit angekommen zu sein. Die beiden wurden von ihren Familien verstoßen, nachdem sie aus der ultra-orthodoxen Haredi-Gemeinde geflohen waren. Die Gemeinde hat sich in der letzten Dekade stark fundamentalisiert, Frauen und Mädchen haben den Radikalisierungsschub durch verschärfte Repressionen und eine extreme Einengung ihrer Bewegungsfreiheit zu spüren bekommen. So sind im sogenannten "Black Bus" Frauen nur noch auf den hinteren Sitzplätzen zugelassen, damit jeder noch so flüchtige Kontakt mit fremden Männern vermieden werden kann. In diesem Umfeld arbeitet Shlomit als Fotografin und dokumentiert die Alltagsmomente der Konfrontation „in action“, während Sarah über die Konsequenzen des eskalierten Geschlechterkonflikts bloggt. Mit der Kamera und im Internet sind Sarah und Shlomit auf der Suche nach einer neuen Identität – der Film porträtiert sie als Protagonistinnen eines weitgehend unbemerkten gesellschaftlichen Konflikts im heutigen Israel.
Dorethee Wenner
Geschlechterapartheid in Israel
SORERET ist der dritte Teil einer Trilogie über Frauen, die im demokratischen Israel düstere und rätselhafte Dinge erleben. Mit diesem Film wollte ich die alltägliche Geschlechterapartheid in Israel beschreiben, ein Phänomen, das ausgeblendet wird, über das man weder sprechen noch das man fotografisch dokumentieren darf. Es scheint fast unmöglich, die Lebensumstände von Frauen in der ultra-orthodoxen Haredim-Gemeinschaft filmisch festzuhalten. Ihr Umfeld verbietet ihnen, ihre Meinung zu sagen, und ahndet jeden Regelverstoß mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft. Das Drehbuch des Films beruht auf einer subversiven Materialsammlung, die Shulamit und Sara zusammengetragen haben, zwei kämpferische junge Frauen, die in Haredim-Familien aufgewachsen sind und irgendwann den Entschluss gefasst haben, das ultra-orthodoxe Leben hinter sich zu lassen. Abgestempelt als „böse Mädchen“, haben sie die Zustände um sich herum, in Jerusalem, aber auch in anderen Teilen Israels in Wort und Bild festgehalten.
Die beiden Protagonistinnen haben sich großen Risiken ausgesetzt, um das Leben im starren Regelwerk der Geschlechtertrennung und des religiösen Extremismus zu dokumentieren. Parallel zu ihren mündlichen Äußerungen habe ich versucht, den verbotenen Bilderwelten der Haredim-Frauen Leben einzuhauchen, die Shulamit mit der Kamera auf ihren Streifzügen durch die Straßen Jerusalems und nachts in jenen Bussen mit der strikt getrennten Sitzordnung festgehalten hat. Die Bilder gleichen einander: Die Frauen sitzen im hinteren Teil des Busses und die Männer wie immer vorne.
Obwohl Sara und Shulamit sich mutig von der Haredim-Welt losgesagt haben, lassen die Todesdrohungen der anderen Gemeindemitglieder sie niemals ganz los. Sie werden immer mit ihren inneren Stimmen zu kämpfen haben, die ihnen Zweifel an ihrer Unabhängigkeit einreden. Der Film erforscht den engen Entscheidungsspielraum von Sara und Shulamit und aller Frauen, die sie gefilmt haben. Es ist ein Film ohne glücklichen Ausgang, weil Einsamkeit und innere Entfremdung die ständigen Begleiter derjenigen sind, die mit der endgültigen Trennung von ihren Familien gestraft sind.
Anat Yuta Zuria
Kein esoterisches Phänomen
Als Anat Yuta Zuria sich vor zehn Jahren, von der bildenden Kunst kommend, dem Film zuwandte, begann sie sich für eine Welt zu interessieren, in der es sowohl Geschichten als auch Drehbücher gibt. Sie hatte an der Ma'aleh Filmschule studiert und wollte als Abschlussfilm nach vierjährigem Studium ihr Projekt TEHORAH (PURITY, 2002) umsetzen. Sie erinnert sich: „Ich hatte schon befürchtet, dass das Drehbuch abgelehnt werden würde, immerhin ist Ma'aleh eine Filmschule mit jüdischem Hintergrund. Und prompt wurde es abgelehnt. Ich weiß nicht mehr, wann genau ich die Entscheidung traf, Filme über Tabuthemen zu machen, aber meine Dokumentarfilme gehen aus persönlichen Erfahrungen hervor. Je mehr ich mich damit beschäftigte, desto stärker wurde der Drang, Filme über Frauen zu machen, die in unterschiedlicher Hinsicht gefangen sind.“
Bevor Zuria mit der Arbeit an SORERET begann, versuchte sie, sich eingehend über die kontinuierlich wachsende Bewegung, die sich für die Geschlechtertrennung einsetzt, zu informieren. „Man gab mir die folgende Erklärung“, seufzt sie: „Die Voraussetzung für die Ankunft des Messias auf Erden ist die Reinheit des Judentums. Diese kann es nur geben, wenn die Männer überhaupt nicht mehr an Sexualität denken. Um diese Gedanken zu unterbinden, müssen Frauen aus dem Blickfeld der Männer verschwinden. Wenn also Frauen nicht mehr in die Vorstellungswelt der Männer eindringen,
wird die Erlösung kommen. Ist das zu glauben? Auf der Grundlage dieser Argumentation sitzen Männer in einigen Bussen der staatlichen sowie der privaten Verkehrsbetriebe vorne, während Frauen im hinteren Drittel sitzen müssen. Solche Busse fahren in Jerusalem, in Bnei Brak und anderen Satellitenstädten mit vorwiegend ultra-orthodoxer Bevölkerung, wie zum Beispiel Beitar Illit und Beit Shemesh. Es gibt sogar Orte, in denen die Krankenversorgung getrennt erfolgt. Ein kleines Mädchen mit Rückenschmerzen kann beispielsweise nur von einer Frau untersucht werden, auch wenn ein männlicher Arzt die besseren Qualifikationen hätte. Auch Lebensmittelläden richten sich mittlerweile nach den Trennungsvorschriften: So gibt es Öffnungszeiten für Männer und für Frauen. Selbstverständlich dürfen ultra-orthodoxe Frauen auch keinen Fahrunterricht nehmen, selbst dann nicht, wenn er von einer Fahrlehrerin erteilt wird. Schließlich kann man nie wissen, wohin die Frau sich nach bestandener Fahrprüfung absetzen würde!“
In SORERET zeigt Zuria zwei Frauen, die sich abgesetzt haben: Shulamit Weinfeld, eine Fotografin, die in einem ultra-religiösen Umfeld aufgewachsen ist, und Sara Einfeld, ein ehemaliges Mitglied der Gur-Hassidim-Bewegung und Mutter zweier Kinder, die sich von ihrem Mann hat scheiden lassen und nun einen subversiven Blog schreibt. „Ich habe nach Frauen gesucht, die beschreiben, wie andere Frauen zum Schweigen gebracht werden, die sich selbst aber den Mund nicht verbieten lassen. Als ich sie gefunden hatte, wurde mir klar, welchen Preis sie dafür bezahlen müssen. Als ich Shulamit kennenlernte, fotografierte sie immer noch heimlich. Als ihr Vater sie mit einer Kamera auf der Straße erwischte, warf er sie aus dem Haus. Beide jungen Frauen wurden aus der Religionsgemeinschaft ausgestoßen – so wird mit allen aufmüpfigen Frauen verfahren. Wenn ein Kind in der ultra-orthodoxen Welt Probleme macht, werden die Familien gezwungen, sich von ihm loszusagen. Für mich hat dieses Verhalten etwas Inzestuöses. Früher war man der Meinung, dass ein Mann seine Ehefrau behandeln kann, wie es ihm gerade passt, bis dieser Horror irgendwann ein Ende hatte. Wenn wir die Bewegung, die die Geschlechtertrennung vorantreiben will, weiter als ein esoterisches Phänomen betrachten, als ein weiteres Merkmal der ultra-orthodoxen Ghettos, werden wir der Verbreitung dieser Ansichten Vorschub leisten.“
Smadar Shir, in: Yedioth Ahronoth, Tel Aviv, 15. Oktober 2009
Eine Kampfansage
Ein Tabubruch in der ultra-orthodoxen Welt führt immer zum Ausschluss aus der Gemeinde. Obwohl die Verstoßenen anschließend keinen Kontakt mehr zu den anderen Mitgliedern der Gemeinde haben, werden sie von quälenden Gedanken verfolgt. Am schwersten belastet sie die Frage nach ihrer psychischen Verfassung. „Ich muss mir selbst beweisen, dass ich gesund bin“, sagt Shulamit, die bereits einen gescheiterten Selbstmordversuch hinter sich hat. Sie ist eine attraktive Jurastudentin und eine begabte, wenn auch einsame Fotografin. Auch Sara, zweifache Mutter und erfolgreiche Bloggerin, leidet unter der Situation. „Sie haben es geschafft, mir einzureden, dass ich an einer psychischen Störung leide“, erklärt sie einem ultra-orthodoxen Freund, der zwischen den beiden Welten hin- und her gerissen ist und versucht, eine Entscheidung zu treffen, wie sein Leben weitergehen soll. Die beiden Protagonistinnen haben einen lauten Hauptfeind: den Bus. „Der Bus hat ein Trauma und in der Folge viele Qualen bei mir ausgelöst“, berichtet Sara.
Die Bedeutung dieses anrührenden und feinfühligen Films wird gerade erst erkennbar. Tatsächlich ist der Bus nur ein Symbol, nicht das Ziel. In chassidischen Kreisen wird man den Film als Kampfansage auffassen. Die Frage ist, wer dann in dieser Auseinandersetzung Sara und Shulamit unterstützen wird.
Shir Ziv, in: Yisrael Hayom, Jerusalem, 18. Oktober 2009
Rebellische Schwestern
Wie den flammenden Artikeln, in denen auf ultra-orthodoxen Websites gegen den Film und seinen Protagonistinnen gewettert wird, deutlich zu entnehmen ist: Wenn zwei junge Frauen als „Rebellinnen“ bezeichnet werden, bezieht sich dies nicht nur auf die Tatsache, dass sie die Glaubensgemeinschaft verlassen haben, sondern viel mehr auf den autonomen Aktivismus, den die beiden an den Tag legen. Ihre Stimmen werden gehört, und das verdanken sie ihrer Kreativität und ihrem künstlerischen Anspruch: Sara schreibt einen Blog, den alle Welt lesen kann, und Shulamit fotografiert das ultra-orthodoxe Gemeindeleben. In dieser Hinsicht gibt es in SORERET eine weitere Rebellin: die Regisseurin selbst, deren Einstellung indirekt aus den Geschichten der beiden anderen Künstlerinnen ersichtlich wird und deren Filmsprache zwischen Saras Worten und Shulamits Bildern vermittelt. Können diese drei künstlerischen Ausdrucksformen etwas gegen die versteckte Welt der Ultra-Orthodoxie des letzten Jahrzehnts ausrichten? Wie beschreibt man filmisch den Hass gegen Frauen, der sich als mystische Sehnsucht nach der Errettung der Welt und Verbreitung der halachischen Werte tarnt?
Raya Morag, in: Eretz Acheret, Nr. 54, Jerusalem, Januar 2010

Details

  • Länge

    76 min
  • Land

    Israel
  • Vorführungsjahr

    2010
  • Herstellungsjahr

    2009
  • Regie

    Anat Yuta Zuria
  • Mitwirkende

  • Produktionsfirma

    Anat Yuta Zuria
  • Berlinale Sektion

    Forum
  • Berlinale Kategorie

    Dokumentarfilm

Biografie Anat Yuta Zuria

In den Jahren 2002-2010 hat Zuria eine dokumentarische Trilogie geschaffen, die sich mit Frauengeschichten innerhalb der jüdischen Religionswelt beschäftigt. Die drei Filme beschäftigen sich alle mit Sexualität, Unabhängigkeit und anderen gesellschaftlichen Tabus, die im israelischen Kino noch nie zuvor dokumentiert wurden.

Der erste Film der Trilogie, "Purity", erzählte die Geschichte dreier religiöser Frauen, deren Leben und Identität durch die Gesetze der Reinheit (Niddah) in Frage gestellt wurden. Der Film legt erstmals eine feministisch-kritische Sichtweise auf die Sexualität im orthodoxen Judentum offen.

"Sentenced to Marriage", der zweite Film der Trilogie, ist ein dokumentarisches Gerichtsdrama, das sich in den rabbinischen Gerichten in Israel abspielt. Der Film folgt der Geschichte dreier junger Frauen, die um einen Gett, eine Scheidung, von ihren Ehemännern kämpften. Zwei Jahre lang dokumentierte der Film das rechtliche Drama der Scheidung vor dem Hintergrund der jüdischen Religionsgesetze.

"Black Bus", der dritte Film, dokumentierte das Phänomen der Geschlechtersegregation in der jüdischen Religionsgesellschaft. Der Film erzählt die Geschichte zweier junger Ultra-Orthodoxer, die einen persönlichen Preis für ihren Versuch bezahlt haben, gegen die Gesetze der Segregation zu arbeiten.