The Ballad of Genesis and Lady Jaye

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Auf persönliche Weise erzählt Genesis P-Orridge die Geschichte seiner Beziehung mit Jacqueline Breyer alias Lady Jaye. Ganz nebenbei erhält man Einblick in ihr gemeinsames Genderkonzept der Pandrogynie und die Anfänge der britischen Industrial-Music.
Dies ist eine Liebesgeschichte und ein Portrait zweier Leben, die die transformativen Kräfte von Liebe und Kunst illustrieren. In warmen und intimen Bilder erschafft Losier ein mise-en-scene Labyrinth aus Interviews, Heimvideos und Filmmaterial von Auftritten. Der Film dokumentiert eine wahrlich neue Form von romantischem Bewusstsein, einer die mit Trotz der täglichen Dehumanisierung des Körpers durch alles durchdringende Werbung und Pornographie entgegen tritt.
THE BALLAD OF GENESIS AND LADY JAYE ist ein Film über Genesis Breyer P-Orridge, bekannt durch Throbbing Gristle und Psychic TV, und seine Lebensund Arbeitspartnerin Lady Jaye (geboren als Jacqueline Breyer). Man mag einen Film über die Geschichte der Industrial Music erwarten, über Genesis als Bindeglied zwischen Pre- und Postpunk-Ära, über den Underground seit den 1970er Jahren. Das ist er auch, aber erzählt aus der Perspektive einer großen romantischen Liebe, die in den 1990er Jahren ihren Anfang nahm. Genesis und Lady Jaye beginnen durch Operationen eins zu werden, ein Drittes, ein Pandrogyn.
THE BALLAD OF GENESIS AND LADY JAYE ist auch ein Film von Marie Losier, einer Filmautorin, deren Handschrift es ist, spielerisch ein sehr persönliches Verhältnis zu ihren Undergroundvorbildern aufzubauen. Küchen- und Gartenaufnahmen werden abgelöst von Home-Movie-Performances, magischen Tricks und Archivaufnahmen. Der Film hält seinen Bewegungsrhythmus – unterstützt durch Genesis’ Cut-Up-Erzählungen – auch dann noch aufrecht, als er durch Lady Jayes überraschenden Tod zu einem Film über die Trauer wird. Nun geht es um die Frage, wie man stirbt, wenn zwei eins geworden sind – und wie man weiterlebt.
Stefanie Schulte Strathaus
Der Körper ist nur ein Koffer
Ich habe Genesis zum ersten Mal vor sieben Jahren auf der Bühne gesehen, in der Knitting Factory, einem inzwischen legendären Klub in Tribeca. Ihn bei seinem Auftritt zu beobachten, war ein reines Vergnügen. Die Worte, die er auf der Bühne sprach, schwebten irgendwo zwischen Gesang und Sprache, tief poetisch, primitiv, manchmal fürchterlich. Ich war völlig hypnotisiert davon und wusste augenblicklich, dass ich diese verwirrende, überwältigende Person filmen musste – vielleicht, um zu verstehen, was ich erlebt hatte, aber mehr noch, um die Existenz eines Wesens zu beweisen, das nach meiner festen Überzeugung nicht von dieser Erde stammte! Ich traf Genesis bei einem dieser für New York City so typischen wundersamen Zufälle auf einer Vernissage in Soho, in einem jener überfüllten Räume, wo man kaum Luft bekommt, geschweige denn, sich bewegen kann. Weil ich ziemlich klein bin, wurde ich in eine Ecke gedrängt und trat versehentlich jemandem auf die Füße. Ich drehte mich um, um mich zu entschuldigen, und stand vor dem lächelnden Genesis, dessen vergoldete Zähne auf mich herabstrahlten. Wir unterhielten uns nur kurz, trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sich etwas Besonderes zwischen uns ereignet hatte. Er fragte nach meinen Filmen und gab mir seine E-Mail-Adresse. Ob es Schicksal war oder einfach meine Tollpatschigkeit: Diese Begegnung war der Beginn einer künstlerischen Zusammenarbeit, die sich bald zu einer engen Freundschaft entwickelte.
Wie viele andere, die ihn kennen, sah ich in Genesis die ebenso schlichte wie tiefgründige Idee verkörpert, dass die Art und Weise, wie man sein Leben lebt, die unanfechtbar höchste Form der Kunst ist, die existiert. „Mein Projekt hat nichts mit Gender-Themen zu tun”, erklärte er mir. „Manche Menschen fühlen sich wie ein Mann, der im Körper einer Frau gefangen ist, andere wie eine Frau, die im Körper eines Mannes gefangen ist. Ein Pandrogyner fühlt sich einfach in einem Körper gefangen. Der Körper ist nur der Koffer, in dem wir umhergetragen werden. Pandrogynie spielt sich ausschließlich im Denken, im Bewusstsein ab.“
Ein ständig wandelndes Erscheinungsbild
Sowohl Genesis wie auch Lady Jaye kamen mit lebensbedrohenden Krankheiten auf die Welt, weswegen sie von frühester Kindheit an eine extrem komplexe Beziehung zu ihrem Körper entwickelten. Später wurden sie Aktivisten der Gender-Variance-Bewegung, und ihr sich ständig wandelndes Erscheinungsbild wurde zum Lebensentwurf, der in ihren gemeinsam geschaffenen Bildern, Fotografien, Texten und Performances dokumentiert ist.
Der Tod von Lady Jaye im Jahr 2007 ist von zentraler Bedeutung für meinen Film. Ich dachte zunächst, dass dieses tragische Ereignis mich von der Weiterarbeit abhalten würde, aber für Genesis war die Fertigstellung dieses Films die am besten geeignete Art und Weise, seine Liebe zu Jaye und sein Leben mit ihr zu ehren; in diesem Sinn ist der Film eine Botschaft der Hoffnung und Solidarität mit Künstlern und Liebenden überall auf der Welt, unabhängig von Geschlecht oder sexueller Orientierung. Weil ich in all den vergangenen Jahren einen einmaligen Zugang zum beruflichen und privaten Leben der beiden hatte, glaube ich, dass das filmische Material, das so entstanden ist, weit über das hinausreicht, was die meisten fiktionalen Filme ausmacht. Letztlich geht es darin um die tiefste aller menschlichen Sehnsüchte: die Liebe.
Ich habe den Film wie ein Patchwork ikonenhafter Bilder angelegt, um auf diese Weise die ständige Aktivität, den Fluss und die Theatralik des Lebens von Genesis und Lady Jaye zu erfassen. Der Film setzt sich aus Erzählungen, Erinnerungen, Träumen, Musik und Interviews zusammen.
Verschiedene Teile davon habe ich in einem Studio aufgenommen und dabei aufwendige Kostüme und eine ausgearbeitete Choreografie verwendet, um Schlüsselmomente im Leben von Genesis und Lady Jaye darzustellen. Einen großen Teil habe ich mit einer 16mm-Bolex-Filmkamera aufgenommen. Da ich in erster Linie alleine drehte, wurde die Bolex gewissermaßen ein Teil meines Körpers, fast wie eine zusätzliche Hand. Ich näherte mich meinen Gegenständen, als stünden wir am Beginn der Ära des Kinos, zu Zeiten von Georges Meliès und der Brüder Lumière: Ich arbeitete mit Tableaux vivants, einer skurril-farbenfrohen Mise-en-scène und der nachträglichen Inszenierung von Geschichten und Interviews. Durch das Nachspielen von Szenen aus dem Leben der beiden Protagonisten zeigte sich eine Wahrheit, die weit über die Dimensionen von konventioneller dokumentarischer Filmarbeit hinausreicht.
Stattdessen entstand eine Form von Psychodrama, das meinen Protagonisten erlaubte, aus sich selbst und ihren Denkgewohnheiten herauszutreten. Verborgene oder bis dahin völlig unbekannte Aspekte ihrer Persönlichkeit begannen aufzutauchen; durch den Schleier der Fiktion hindurch werden dem Zuschauer das Fantasieleben einer Person und ihre geheimen Wünsche und Sehnsüchte ebenso nahegebracht wie ihre zentralen Gefühle.
Marie Losier
Fellini und der Dokumentarfilm
Maries Technik ist hochrevolutionär. Die meisten Dokumentarfilme – und ich habe bei vielen Dokumentarfilmen mitgewirkt, unter anderem über Joy Division, Brion Gysin, Burroughs, Derek Jarman – ähneln sich: Man wird auf einen Stuhl gesetzt, eine Kamera wird auf einen gerichtet, genauer gesagt auf den Kopf, und man macht bla bla bla bla bla … – das ist ganz einfach. Dabei passiert nichts, was besonders interessant oder radikal wäre. Die Arbeit mit Marie ist anregend, und sie bringt einen dazu, die aberwitzigsten Kostüme zu tragen und bizarre Dinge zu tun, während man gleichzeitig denkt: „Was zur Hölle hat das mit meinem Leben zu tun?“ Aber wenn später alles zusammengefügt ist, kommt es einem vor, als würden Fellini und der Dokumentarfilm aufeinandertreffen. Das ist eine sehr neue, radikale Art, Dokumentarfilme zu machen, und wir glauben wirklich, dass das, was Marie macht, und die Art, wie sie es macht, ein Vorbild für alles Zukünftige in diesem Bereich sein wird. Sie ist absolut einzigartig, sehr tiefgründig, mit einer großen Fähigkeit zur Freude und zu Gefühlen hinter ihrem Humor.
Genesis Breyer P-Orridge-2009

Details

  • Länge

    75 min
  • Land

    USA, Frankreich
  • Vorführungsjahr

    2011
  • Herstellungsjahr

    2011
  • Regie

    Marie Losier
  • Mitwirkende

    Genesis Breyer P-Orridge, Lady Jaye Breyer P-Orridge (aka Jacqueline Breyer P-Orridge), Big Boy (Breyer P-Orridge), Edley Odowd, David Max, Markus Persson, Alice Genese, Bryin Dall, Tony Conrad, Caleigh Fisher, Gibby Haynes, Clyde Magid, Marti Domination, Caresse P-Orridge Balpazari, Genesse P-Orridge, Lili Chopra, Peaches
  • Produktionsfirma

    Marie Losier
  • Berlinale Sektion

    Forum
  • Berlinale Kategorie

    Essay Film
  • Teddy Award Gewinner

    Best Documentary/ Essay Film

Biografie Marie Losier

Die französische Filmemacherin Marie Losier (1972) lebt und arbeitet in New York. Sie studierte zunächst Literatur an der Universität Paris-Nanterre, später bildende Kunst in New York, wo sie zudem als Filmkuratorin arbeitete. Losier drehte eine Vielzahl filmischer Portraits von Avantgarde-Regisseuren, Musikern und Komponisten wie etwa von Mike und George Kuchar, Guy Maddin, Richard Foreman und Tony Conrad. Als Schauspielerin wirkte sie zudem in Filmen von George und Mike Kuchar sowie von Jackie Raynal und in Theaterstücken von Juliana Francis und Tony Torn mit. Zurzeit arbeitet sie an einem neuen Film über Cassandro. Ihre Filme und Videos wurden international in zahlreichen Museen und Galerien sowie auf Biennalen und Festivals präsentiert.

Filmografie Marie Losier

2008 Papal Broken Dance | 2012 Byun, Found and Object | 2014 Alan Vega - Just a Million Dreams

Biografie Genesis Breyer P-Orridge

Genesis P-Orridge wurde am 22. Februar 1950 in Manchester, England als Neil Andrew Megson geboren. Er ist Schauspieler und Komponist, bekannt für The Raspberry Reich (2004), The Dinner (2017) und Ghost at No. 9 (2005). Zuvor war er mit Lady Jaye Breyer P'Orridge verheiratet.